Merkmale von Hochbegabung 11: Unheimlich unheimlich

Wenn ich mir die Merkmale von Hochbegabung anschaue, die ich in den letzten Wochen hier beschrieben habe, dann ist es doch eine Liste von Eigenschaften geworden, auf die man durchaus stolz sein kann. Warum sind aber dann so viele Hochbegabte nicht stolz auf ihre feine Wahrnehmung, ihren wachen Verstand, ihre Kreativität? Warum bleibt da das Unbehagen, das Gefühl, nicht ganz in Ordnung zu sein, an irgendwas Schuld?
Das liegt an der Unheimlichkeit. Denn Hochbegabte sind un-heimlich, nicht-vertraut, anders eben. Die Andersheit kann man aber nicht sehen, sie hat aber nicht die deutliche Form grüner Ohren oder doppelter Nasen. Sondern ist den anderen, Eltern, Lehrern, Klassengenossen, erst nur eine Ahnung. He, die ist anders. Die guckt so komisch. Die schaut so ernst, so tief, so intensiv. Die fragt so seltsam, Die redet so anders, die weiß so komisch viel, die spielt nicht was andere spielen, die schaut mich manchmal so eigenartig an… Oft werden solche Wahrnehmung dem Kind in Nebensätzen oder Schlagsinnen mit auf dem Weg gegeben. Neunmalklug, Naseweis, Extragescheit, Besserwisser ( mojour hatte dazu letztens auch einen interessanten Post). Aus ihnen spricht die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten, vor Unruhe und Veränderung.
Sich selbst unheimlich geworden, bleiben viele Hochbegabte unruhig, sich fremd, Vertrauen ihrer Wahrnehmung nicht und halten sich zurück. Darum muss Unheimlich als letztes Merkmal in dieser Liste stehen.
Aber das Schöne an unheimlich ist ja, dass es in der deutschen Sprache genau die Doppeldeutigkeit hat, die der Erfahrung von Hochbegabung inne ist: Hochbegabte sind unheimlich. Unheimlich cool, unheimlich gut, unheimlich hochbegabt, unheimlich unheimlich.
Und ich bin unheimlich froh, dass ihr mir in euren Mails und Kommentaren so viele unheimlich spannende und unheimlich lustige Gedanken zu den Merkmalen geschickt habt!
Schau auch mal auf meinen anderen Seiten vorbei:
www.begabungswerkstatt.de
Bis bald! Nathalie
Interessant. Ich erkenne mich in fast allen Einzelheiten wieder, wurde aber nie getestet (bin mittlerweile 21 und habe meine ersten Sekundarstufenschuljahre auf der Hauptschule verbracht). Dass ich über 120 läge, dessen bin ich mir so gut wie sicher. Aber über 130? Eigentlich ist das eine alberne Grenze. Allein die Existenz einer solchen Grenze, die mehr oder minder strikt beibehalten wird, ist albern. Man sollte (auch) andere Kriterien zur Feststellung einer Hochbegabung nutzen und in Erwägung ziehen, dass auch Leute mit knapp darunter liegendem IQ intellektuell hochbegabt sind und vielleicht nur aufgrund ihrer unkonventionellen, kreativen Art der Problemlösung weniger Punkte erlangen. Was ist mit den hochintelligenten und kreativ denkenden Menschen, die beim Test lediglich 128 rausbekommen und somit nicht als hochbegabt gelten, obwohl sie es durchaus sind? Ich weiß für mich sicher, dass ich das Denkschema und die Gefühlswelt einer Hochbegabten habe. Allein in meinem aufgrund meiner Tendenz zur Introversion und zum Einzelgängertum doch recht kleinen Umfeld gibt es acht Hochbegabte. Fast alle Menschen, mit denen ich jemals gut befreundet war, sind hochbegabt. Doch in Internet-IQ-Tests bekomme ich Ergebnisse zwischen 110 und 140. Und es wird immer behauptet, die Testergebnisse im Internet absolvierter IQ-Tests fielen höher aus als offizielle – was meine Chancen, in einem anerkannten Test als hochbegabt befunden zu werden, deutlich verringert. Der Mensa-Onlinetest, den ich mit einer zeitlichen Differenz von knapp zwei Jahren zweimal absolviert habe, sagte mir beim ersten Mal, meine Chancen, den Test zu bestehen, seien ausgezeichnet, beim zweiten Mal meinte er, sie seien gut. Nur dass ich den Mensa-Test erst recht nicht machen würde, weil ich die Kosten selbst tragen müsste und lediglich gesagt bekäme, ob ich aus psychologischer Sicht hochbegabt bin oder nicht.
Ich würde bei mir nun beim besten Willen auch keinen IQ von 180 erwarten, aber um die 130 schon.
Nächsten Monat begebe ich mich in Therapie. Mal sehen, was der Psychologe davon hält. Ich werde ihm wohl oder übel sagen müssen, dass ich an einer Testung kein Interesse habe. Meine Angst, kurz vor der 130-Grenze zu scheitern, meine Hochbegabung nicht bestätigt zu bekommen, obwohl ich ob all der Dinge, die mich von der Norm unterscheiden und charakterlich eher den Hochbegabten zuordnen, eigentlich hochbegabt wäre, ist einfach zu groß.
Hallo liebe anonyme Begabte – ich denke wie du, dass es albern ist, Hochbegabung nur an einer Zahl festzumachen. Intelligenz hat so viele Aspekte, die in Tests (noch) nicht gemessen werden.
So wird Hochbegabung ja als eine Kombination von IQ, Motivation und Kreativität gesehen – wir messen aber nur eins der drei Kriterien. Außerdem gibt es natürlich viel – wie ich denke sehr berechtigte – Kritik am Intelligenzbegriff, der in den Tests zugrunde gelegt wird. Es fehlen dabei Aspekte wie soziale, moralische und emotionale Intelligenz. Gerade auf diesen Gebieten erfahren sich aber hochbegabte Menschen als ganz besonders "Anders".
Noch etwas anderes ist wichtig: Meiner Erfahrung nach haben viele hochkreative Menschen ganz ähnliche Merkmale und machen ähnliche Erfahrungen wie Hochbegabte (kein Wunder – bei ihnen sind Motivation und Kreativität auch besonders ausgeprägt). Viele Forscher auf dem Gebiet von Hochbegabung und Kreativität gehen inzwischen auch davon aus, dass man unter "hochbegabt"auch die Menschen mitzählen kann, die auf einem bestimmten Gebiet ganz besonders intelligent sind, die zum Beispiel eine ganz besondere Musikalität oder künstlerische Begabung haben.
Übrigens werden in vielen Angeboten für hochbegabte Kinder heute eher Werte von 120 als Untergrenze genommen. Nur Mensa bleibt da wohl starr.
Wenn du gut englisch lesen kannst, ist The Gifted Adult
http://begabung.blogspot.de/2009/11/gifted-adult-revolutionary-guide-for.html
vielleicht interessant für dich.
liebe Grüße,
Nathalie
Schöner Artikel, endlich einmal.
Ich bin unheimlich, indem ich heimlich hochbegabt und hyperaktiv bin.
Jeder weiß es, nur ich nicht.
… Hallo! Ich war diejenige, die den ersten Kommentar hier verfasste. Mittlerweile sind fast fünf Jahre vergangen.
Mittlerweile wurde mir eine intellektuelle Hochbegabung therapeutisch bescheinigt – rein anamnestisch, weil ich aufgrund erheblicher Prüfungs- und allgemein Selbstzweifel niemals einen IQ-Test absolvieren würde, da dieser meine kognitiven Grenzen, die ja definitiv vorhanden sind, wenngleich überdurchschnittlich sein mögen, keinesfalls auch nur erahnen können möchte.
Dazu ADHS, eine Sozialphobie, chronische Depressionen seit der Kindheit und eine Persönlichkeitsstörung, das volle Programm eben.
Tja, komme aus einer (der Definition nach!) bildungsfernen Familie (bildungsfern im nichtschulischen Sinne sind meine Eltern beide nicht), habe mein Abitur nach einem Studienabbruch über einige unkonventionelle Ecken nachgeholt, dann ein durchaus anspruchsvolles Studium aufgenommen. BAföG-Höchstsatz erhalten, für zwei Jahre. Nur mein Vater lebt noch, ist Rentner und hat weniger als ALG II; aber weil ich meine Therapie zu spät begann, muss ich mich seit dem 5. Semester mit Jobben durchschlagen, weil man mir kein BAföG mehr gewähren will. Ursprünglich sogar im Callcenter, mit Sozialphobie und SVP. Selbst chronisch kranke, aber nachweislich für ein Studium geeignete Studenten haben kein Recht auf das im Grundgesetz verankerte menschenwürdige Existenzminimum. Es macht mich so verdammt wütend. Hätte ich mit Unterforderung nicht derart erheblich schlechte Erfahrungen gemacht, die bis zum Suizidwunsch reichten, weswegen mir auch mein Therapeut dringend vom Studienabbruch abrät, würde ich auch eine Ausbildung machen. Hätte besser mal mein Studienfach gewechselt, dann könnte ich auch ohne Existenzängste und massiven Stress mein Studium beenden.
LG
Die Schreiberin vom November ’12
Hallo liebe Anonyme, einerseits ist es schön hier wieder von dir zu hören, andererseits macht es mich traurig zu lesen, dass du so schwierige Zeiten hinter dir hast. Toll finde ich, dass du es geschafft hast, dein Abitur nachzuholen und trotz all der Hindernisse, so weit zu kommen. Ich habe mit vielen Menschen gearbeitet, die solche Umwege gegangen sind. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie oft unheimlich viel gelernt haben, viel über sich und die Welt wissen, das andere, mit einfacheren Wegen, nicht wissen. Nimm deine eigene Erfahrung ernst. Schau, was deine ganz spezielle Familiensituation dich auch gelehrt hat. Das mag jetzt alles noch nicht besonders schillernd scheinen, aber meine Erfahrung ist, dass oft gerade daraus dann ein besonderer Schatz wächst. Etwas, für das du dich einsetzen willst, besondere Fähigkeiten, besonderes Wissen, mit dem du anderen eines Tages weiterhelfen kannst. Liebe Grüße, Nathalie