Jedem Kind ein Buch (seiner Wahl)

Ich bin nicht mit viel Luxus aufgewachsen – so gut wie alles in unserer Wohnung stammte vom Flohmarkt und auf Kleidung wurde wenig wert gelegt. Aber auf einem Gebiet war ich wirklich reich: Wir Schwestern hatten ganz bestimmt einen der größten und abwechslungsreichsten Bücherschränke, den Kinder meiner Generation haben konnten.
Manche der Bücher hatten meine Eltern ausgesucht, wie die wunderbaren Kronenklauer. (Das allererste Mitmachbuch und ganz bestimmt einer der Auslöser dafür, dass ich heute selbst Mitmachbücher mache). Oder Ionescos Geschichten über Josette mit den grandiosen Bildern von Etienne Delessert. Wären aber nur meine Eltern für den Inhalt des Schranks verantwortlich gewesen, wäre er sicher nicht halb so variiert gewesen. Ich hätte dann wohl weder das niedliche Buch von der kleinen maotreuen Chinesin gehabt, die als Ärztin ihre Kuscheltiere versorgte (das hatte ich von maotreuen Bekannten bekommen) noch “Nesthäkchen und der Weltkrieg” (noch von meiner Oma) oder “Hanni und Nanni” (Geschenk einer Freundin) – alles drei Bücher, die ich sehr geliebt habe. Und keins davon wurde wohl je von Kinderbuch-Rezensenten empfohlen.
Mit meinen eigenen Kindern hatte ich kürzlich ein sehr aufschlussreiches Gespräch über deren Bücherschrank. Ja, für ein paar der Lieblingsbücher waren wir Eltern verantwortlich. (Alles von Annie M.G. Schmidt und Heimatlos zum Beispiel). Aber andere hätte ich nie und nimmer freiwillig ins Kinderzimmer gelassen. Sie wurden von Babysittern oder Nachbarn beigesteuert. 365 Geschichten vom scheußlich kitschigen Bärchen, Glitzerbücher mit pseudotiefsinnigen Friedensbotschaften, bei deren Anblick ich akut Krätze bekomme, schlechtest gereimte Einschlafbücher – sie entlocken meinen jugendlichen und erwachsenen Töchtern jetzt nostalgische Sehnsuchtsseufzer und “Oh-das-war-so- toll.-Haben-wir-das-noch,-das-will-ich-unbedingt-noch mal-lesen”-Rufe. Wie gut, dass ich mir nicht erlaubt habe, den Bücherschrank zu zensieren: Die Gefahr wäre groß gewesen, dass ich genau das Kinderbuch entfernt hätte, das später so ans Herz wachsen sollte. Genau wie mich der bunte Mix meiner Jugend bereichert hat, so haben auch meine Töchter ihren eigenen Geschmack entwickelt.
Denn Kinder wissen selbst am besten, welches Buch das richtige für sie ist. Und wir sollten ihnen die Gelegenheit geben, es zu finden. Deshalb sollte jedes Kind mindestens einmal im Jahr einen Büchergutschein bekommen, mit dem es sich ein Buch seiner Wahl aneignen kann.
Am besten gibt man den Kindern beim Betreten des Buchladens Ohrstöpsel.