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Ich und meine Kreativität hatten lange eineHass-Liebe-BeziehungEinerseits liebte ich alles Kreative, umgab mich mit kreativen Menschen und fühlte mich nur dann wirklich glücklich, wenn ich mich mit meinen eigenen Ideen beschäftigen konnte. Andererseits schien gerade meine Kreativität immer wieder für Probleme in meinem Leben zu sorgen. Zum Beispiel, wenn ich mich entscheiden wollte. Für einen Beruf, ein Studienfach, eine Kunstform, einen Businessplan. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass meine vielen Ideen und Interessen mich davon abhielten, wirklich was zu erreichen.

Entscheide dich! Wegweiser mit vielen Schildern, die in alle möglichen Richtungen weisen

Oder als ich nach dem Studium meine erste Stelle antrat und immer wieder merkte, dass meine kreativen Vorschläge und Arbeitsweisen von den KollegInnen „als zu verrückt oder als störend erfahren wurden.

Warum immer wieder etwas Neues probieren?

Ich hatte das Gefühl, dass alle ihr Leben geregelt kriegten, nur ich nicht. Und ich warf mir vor, dass ich zu chaotisch oder zu kompliziert, zu wild oder zu unsicher, zu undiszipliniert oder zu sensibel wäre. Und dass ich endlich aufhören musste, eine Idee nach der anderen zu entwickeln. Mich stattdessen lieber endlich entscheiden sollte. Die anderen schafften das doch auch?mit Selbstzweifeln am Tisch sitzen und denken: "Wenn ich doch endlich meine Nische finden würde".

Wie oft sind mir solche Gedanken nicht durch den Kopf gegangen? Doch so mehr ich versuchte, mich zu entscheiden, desto unmöglicher wurde es. Und desto mehr ich versuchte, endlich „was hinzukriegen“ desto größer wurde die Verwirrung in meinem Kopf. Für mich kam der Ausweg aus dem Gedankenchaos, als ich von meiner dritten Tochter schwanger war und ein paar Monate Ruhe halten musste. So von meinem Job befreit, habe ich etwas getan, was ich viel zu lange verwahrlost hatte:gebastelt und zwar auf dem Sofa wie früher als Kind

Zwei Monate habe ich viele Stunden am Tag damit verbracht, Collagen zu machen. Und dabei entdeckte ich wieder, wie wunderbar lebendig ich mich fühle, wenn ich kreativ arbeite. Und ich wusste: Ich will nie mehr in einer Umgebung arbeiten, in der Kreativität unterdrückt wird. In den Jahren danach habe ich Ausbildungen zum Gestaltcoach und zur Lerntherapeutin gemacht und angefangen mit Menschen mit einem besonderen Lernstil zu arbeiten.
Ein Teil meiner Arbeit waren Erfinderkurse  für Kinder. Das war großartig. Denn mir fiel dabei wieder auf, was ich fast vergessen hatte: Alle Kinder sind von Geburt aus selbstbewusst und kreativ.Die jungen Kinder waren voller Pläne und zweifelten nicht an ihren Fähigkeiten

Es waren phantasievolle Kinder, die vor Ideen nur so sprudelten. Kinder, die über ein stark ausgeprägtes Unrechtsgefühl verfügten und sich für Schwächere einsetzten. Kinder, die schon früh mit einem ganz eigenen Stil zeichneten oder malten. Kinder, die kaum dass sie die ersten Buchstaben konnten, schon anfingen, eigene Geschichten zu schreiben. Kinder mit einem unendlichen Wissendurst und Kinder, deren Energie unerschöpflich schien. Kinder, die schon Pläne schmiedeten, wie sie als Erwachsene die Elefanten retten oder die Armut bekämpfen würden. Erfinder, WissenschaftlerInnen, PhilosophInnen, KünstlerInnen, UnternehmerInnen und Weltverbesserer, die sich vollen Mutes an die Entdeckung, Erforschung und Veränderung der Welt machten.

Bei diesen Kindern konnte ich mir nicht vorstellen, dass irgendwas sie bremsen könnte

Doch ich arbeitete eben auch mit Älteren. Und bei wenigen davon war diese frühe Begeisterung noch ungebrochen. Spätestens in der Pubertät erfuhren sehr viele begabte Kinder sich selbst auf negative Weise als “anders”. Sie hatten das Gefühl »falsch« zu sein, vermuteten gar, sie seien irgendwie »verrückt«. Sie waren verunsichert, trauten sich nicht mehr, ihren Wissensdurst in der Schule zu zeigen. Sie bremsten sich selbst in ihrer Begeisterung, hielten ihre kritischen Kommentare zurück, beschnitten ihre großen kreativen Ideen bis kleine vernünftige Projekte daraus wurden, an denen sie dann nur halbherzig arbeiteten.

 

In meinem Coachingraum steht ein großes Sofa, das ich sehr mag. Auf diesem Sofa haben inzwischen sehr viele sehr wunderbare Menschen gesessen: Menschen mit tollen Ideen und mit Erfindergeist, Menschen, die bezaubernd malen, schreiben, singen oder tanzen konnten, hochsensitive Menschen mit besonderen Wahrnehmungen und Männer und Frauen mit hohen sozialen Kompetenzen. Nur fanden sie sich selbst absolut nicht wunderbar. Im Gegenteil: Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie negativ die meisten dieser Leute ihre eigene Persönlichkeit sahen. Sie haben mir ausführlich beschrieben, wie unfähig und chaotisch, wie dumm und gestört sie sind und wie unglaublich wenig sie in ihrem Leben erreicht haben.

 

 

Viele Hochbegabte zweifeln trotz besonderer Leistungen an ihren Fähigkeiten unsicher fühlen, weil man die eigenen Fähigkeiten nicht wertschätzen kannjj

Zum Glück bitte ich neue KlientInnen immer, zur ersten Stunde alles mitzubringen, was sie an Ideen und Notizen und angefangenen Projekten so haben. Manche kommen mit ganzen Koffern angereist. Und wenn sie anfangen auszupacken und mir ihre Sachen zu zeigen, wird ziemlich schnell klar, dass mir eine Person gegenüber sitzt, die der Welt etwas Wunderbares zu bieten hat. Was da alles zu Vorschein kommt: selbst entwickelte Spiele, bezaubernde Zeichnungen, spannende Ideen für Romane und Sachbücher, überraschende Erfindungen, kluge Ideen für soziale Projekte und jede Menge einfühlsamer Beobachtungen.

Koffer aus dem Sterne kommen

Ich bin immer wieder dankbar, wenn mir Menschen einen Einblick in ihren inspirierenden Geist geben. Aber es macht mich auch sehr traurig, dass so viele wunderbare Leute so negativ über sich selbst denken. Sie schämen sich, weil sie meinen, nichts hinzukriegen und zu versagen. Sie fühlen sich schuldig, weil sie das Potenzial, das sie in sich spüren, nicht wahrmachen. Sie hassen große Teile ihrer Persönlichkeit und zweifeln an allem, was sie tun, an ihren Wahrnehmungen, ihren Fähigkeiten, ihren Ideen und ihrem Verstand.

Selbstvorwürfe

Als mir auffiel, wie negativ viele begabte Menschen über sich selbst denken, fing ich an, diese negativen Kommentare zu sammeln. Sie finden sich:

sich selbst alles mögliche vorwerfen - zu chaotisch, zu verrückt und so weitterHochbegabte und Kreative finden sich zu unsicherUnd deswegen schämen sie sich und fühlen sich schuldig.

Die Menschen, von denen diese Aussagen stammen, kenne ich gut. Ich weiß, dass es sich um

wunderbare Männer und Frauen mit fantastischen Fähigkeiten

Wie kann es sein, dass sie trotz ihrer Talente und ihrer kreativen Persönlichkeit an sich selbst zweifeln? Und ist das nicht paradox? Warum führen ihre besonderen Begabungen, ihre Energie und ihr Wissensdrang, ihre oft guten Schulleistungen nicht dazu, dass sie ein positives Selbstbild entwickeln? Warum haben sie trotz ihrer vielen Fähigkeiten das Gefühl zu scheitern und nichts hinzukriegen? Wie werden aus selbstbewussten Kindern so unsichere Erwachsene?

Was passiert mit den Kindern?

Was all diese wunderbaren Menschen nicht wussten: Ihr Scheitern ist kein Persönliches. Es liegt nicht daran, dass sie zu schwach oder nicht begabt genug seien oder dass irgendetwas an ihrem Charakter nicht stimmen würde. Sondern daran, wie wir in unserer Gesellschaft mit Kreativität umgehen.

Man könnte meinen, dass Kreative es gut haben bei uns. Vergöttern wir sie nicht? Stehen Zeitschriften nicht voll von Geschichten über kreative Genies? Steve Jobs, Einstein, Frida, … sie sind doch Idole?
Ja, wer es schon zum Genie gebracht hat, bei dem finden wir es toll, wenn …
Er ist so verspielt! Kind geblieben! Und das Chaos in seinem Atelier, echt Künstler. Er ist wild! So herrlich authentisch. Unangepasst.
Aber wie wäre es, wenn ein Kind dieselben Eigenschaften zeigt.
Meinst du die Reaktionen wären dann genauso positiv?
Wohl eher nicht.
Und genau hier liegt das Problem:
Viele der Eigenschaften, die zur kreativen Persönlichkeit gehören, werden in unserer Gesellschaft negativ bewertet. Und nicht so’n bisschen, sondern so doll und vehement, dass kreative Menschen das Gefühl bekommen, nicht in Ordnung zu sein.
Fass nicht alles an.
Sei nicht so empfindlich.

Das sind wohl eher die Reaktionen, die das kreative Kind bekommt.

Frau Lehrerin, heißt das…

Ja Anna, richtig, setzen.

Auszug aus: Nathalie Bromberger. „Begabungsfalle kreativ.“ iBooks.