„nun sei doch nicht so empfindlich!“ – „du meinst immer, man wollte dir was ….“ – „du bist immer …. zu ….irgendwas: zu traurig, zu himmelhochjauchzend, zu angestrengt, zu ernsthaft …. bist du eigentlich auch irgendwann mal ‚normal‘?!“ – „du immer und deine befindlichkeiten!“ – „du denkst wohl, du wärst was besonderes?!“
das sind so die – meist in vorwurfsvollem ton übermittelten – botschaften, die mich seit meiner kindheit verfolgen und bis in die gegenwart begleiten. ständig vermittelte man mir den eindruck, dass ich so, wie ich bin, nicht richtig sei, sondern falsch. dass ich mich gefälligst ändern müsse, damit ich für die anderen nicht so unbequem bin.
was kann denn ich dafür, wenn mir etwas zu laut ist? wenn ich schnell friere? wenn viele menschen auf einen haufen mich schwindlig werden lassen? wenn gerüche mir übelkeit verursachen, die andere höchstens als hauch wahrnehmen? wenn ein wollpullover, den andere für kuschelweich halten, mir wie schmirgelpapier an der haut schrubbt?
viele viele jahre lang haben mich diese vorwürfe der anderen gequält. die sich immer wiederholende botschaft „sei eine andere!“ hat mich an den rand der verzweiflung gebracht und in die selbstzerstörung getrieben: depressionen, bulimie, suizidversuche, sucht: alles habe ich ausprobiert, um eine andere zu werden. es ist mir nicht gelungen.
und dann, vor wenigen wochen erst, bin ich über ein buch gestolpert, das mich darin bestärkt hat, so sein zu dürfen wie ich bin – dass es für eine wie mich (mit einem iq weit jenseits der 130) quasi normal ist, nicht nur besonders schlau, sondern auch besonders empfindsam, sensibel, gefühlvoll zu sein. eine kluge mimose eben.
Andrea Brackmann heißt die autorin, „Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? Die seelischen und sozialen Aspekte der Hochbegabung bei Kindern und Erwachsenen“ der titel.
Brackmann ist selbst ‚betroffene‘ (jaja. als ob intelligenz eine krankheit sei) und arbeitet als psychologin und therapeutin seit vielen jahren mit hochbegabten kindern, jugendlichen und erwachsenen.
ihre erfahrungen und forschungsergebnisse grob zusammengefasst: ein mehr an intelligenz geht fast immer auch zusammen mit einem mehr an auffassungsvermögen, mehr an wahrnehmung, mehr an sinneseindrücken, mehr an emotionen.
weil so vieles auf uns einströmt, weil „wir oberschlauen“ mehr wahrnehmen als andere und das nicht abstellen können, kommt es schnell zu einer überreizung, einer überforderung der sinne. dann werden wir in den augen anderer zur zicke – obwohl das reiner selbstschutz ist: wenn eine situation mich überfordert und quält, dann muss ich da raus, und zwar schnell. das ist doch normal, oder etwa nicht? aber weil ich mehr auf- und wahrnehme als andere, ist meine persönliche grenze der erträglichkeit schneller überschritten.
eine rasche überreizung ist natürlich nicht der einzige aspekt, auf den Brackmann in ihrem fast 240 seiten starken buch eingeht.
sie beschreibt u.a. einige ‚typen‘ hochbegabter erwachsener – vom zerstreuten professor über die grenzgängerin oder die späte künstlerin bis hin zum perfektionisten oder dem nonkonformisten – sowie deren typische alltagserfahrungen und -konstellationen. ihr stil ist dabei humorvoll, immer menschlich wohlwollend und leicht lesbar, ohne in platitüden oder plumpe verallgemeinerungen abzugleiten.
eine wohltat! ich habe oft geschmunzelt beim lesen – und auch viel geweint, weil es so unendlich gut getan und mich sehr entspannt hat, mich in Brackmanns beschreibungen wiederzufinden. und das mir, die doch immer einen bogen macht um jede psychologische schublade, die sich allen bisherigen seelen-einordnungsversuchen widersetzte und alles, aber wirklich ALLES tat, um sich aufgezwungene etiketten wieder abzureißen. kein wunder, die haben ja alle nicht gepasst!
bei frau Brackmann passt es: zum ersten mal las ich worte wie „frühkindlich traumatisierte kreative hochbegabte“ – und was meine hohe intelligenz beim überleben und bei der verarbeitung meiner persönlichen katastrophen beigetragen hat, was ich ihr gar zu verdanken habe.
ebenfalls habe ich erst in diesem buch erfahren, dass sich durch die oben erwähnten phänomene einer kontinuierlichen seelischen und sinnlichen überreizung wesenszüge und merkmale herausbilden können, die denen von autismus gleichen. ähnliches gilt für borderline. Brackmann erläutert und begründet ihre thesen einfühlsam und anschaulich – die genannten parallelen sind für mich sofort nachvollziehbar.
beim lesen dieses buches habe ich gelernt, dass dieses schwer definierbare gefühl von „anders-sein“ und „nicht-richtig-dazu-gehören“, das mich ein leben lang begleitet, für hochbegabte ganz typisch ist. und dass meine extreme neugier und soziale sensitivität nicht im widerspruch stehen zu meinem bedürfnis, sehr viel zeit für mich zu haben und allein zu sein.
die schönste wohltat beim lesen aber war vielleicht die tatsache, dass Brackmann aus eigener erfahrung lebt, wovon sie schreibt. ihr tonfall ist niemals belehrend von oben herab, sondern immer respektvoll auf gleicher ebene.
sie vermittelt genau die art von authenzität, die hochbegabte menschen brauchen, um einem gegenüber vertrauen und es auch ernst nehmen zu können. denn mit unseren feinen antennen spüren wir sofort, wenn jemand uns etwas einreden, uns manipulieren will – der hat dann sofort verloren.
Andrea Brackmann gewinnt! – und deswegen möchte ich dieses höchst spannende buch sehr empfehlen, auch wenn es nicht mehr ganz neu ist: erschienen ist es im jahr 2005 beim Klett-Cotta Verlag als No. 180 in der reihe „Leben lernen“, liegt bereits in vierter (sic!) auflage vor und kostet derzeit 22,90 euro; ISBN 978-3608890143
Schau auch mal auf meinen anderen Seiten vorbei:
www.begabungswerkstatt.de
Bis bald! Nathalie