Hochbegabte (und Hochkreative!) sind enorm neugierig, finden die unterschiedlichsten Themen und Aktivitäten interessant und haben eine ellenlange To-do-Liste.
Diese breite Orientierung und Offenheit hat einerseits mit ihren vielen und fein abgestimmten Antennen zu tun (sie Merkmal 3: Sensitivität), aber auch mit Kreativität und Komplexität, Merkmale auf die ich in dieser Serie noch eingehen werde.
Nun ist es aber auch in diesem Fall wieder so, dass dieses besondere Merkmal Hochbegabter in unserer Kultur nicht gerade hochgeschätzt wird. Drei oder vier Interessengebiete stehen recht nett im Bewerbungsbrief, wer mehr aufschreibt läuft schon Gefahr als ein Mensch eingeschätzt zu werden, der sich nicht entscheiden kann. Und Sich-Nicht-Entscheiden-Können ist äußerst verwerflich. Wer sich nicht entscheiden kann ist womöglich unentschlossen oder zögerlich, oder er hat den Ernst des Lebens noch nicht begriffen, nämlich, dass man im Leben nunmal nicht alles machen kann, was einem Spaß macht und dass man sich nunmal entscheiden muss und dass es alles kein Zuckerschlecken ist und dass man irgendwann ja auch mal zur Sache kommen und Nägeln mit Köpfen machen muss und bloß nicht ewig herumexperimentieren ohne dass etwas Nützliches dabei herauskommt.
Diese Botschaften werden hochbegabten Kindern schon früh vermittelt, mal mehr mal weniger subtil.
Du kannst dich immer noch nicht für ein Thema bei deinem Referat entscheiden? Nun mach aber mal!
Dein Aufsatz ist viel zu lang, weil du so viele unterschiedliche Themen angeschnitten hast – schlecht!
Du möchtest Jonglieren lernen? – letztes Jahr wolltest du Chinesisch lernen und du hast gerade erst mit Gitarrespielen angefangen – jetzt bleib endlich mal bei einer Sache!!!
Erst sind es Eltern und, später Freunde und Bekannte, die den Tausendsassa darauf weisen, dass er ihnen mit seinen wechselnden Interessen, Studienfächern oder Berufen auf den Nerv geht. Sie erfahren es als eine Belastung, dass sie sich immer wieder auf neue enthusiastisch vorgetragene Projekte einlassen müssen nur um – gerade wenn sie endlich verstanden haben um was es dabei geht – festzustellen dass das Projekt schon längst wieder vorbei ist. Jetzt ist etwas ganz anderes angesagt, und das wird auch wieder mit jener 100% Begeisterung vorgetragen.
Warum sind Tausendsassas so lästig und nervtötend?
Weil es schwer ist sie einzuordnen und sich von ihnen ein Bild zu machen. Statt eines normalen Photos bräuchte man hier schon so wunderbare Abbildungen, wie es sie in Harry Potters Zauberwelt gibt – Bilder, auf denen die Figuren sich bewegen und verändern können.
Doch dies ist nur die halbe Antwort. Denn die Begeisterung, die der Tausendsassa für jedes seiner Projekte aufbringt, ist vielen Leuten an sich schon suspekt. Wahrscheinlich, weil sie sich selbst nie zu solchem Engagement verleiten lassen. Und wenn ein anderer es kann – bedeutet das nicht, dass mir etwas abgeht? Der Tausendsassa scheint vor Begeisterung Flügel zu bekommen, das Glück über seine Neuentdeckung strömt ihm geradezu aus den Poren und er legt eine schier unerschöpfliche Energie an den Tag. Wem solche Energieströme und Begeisterungswellen unbekannt sind, in dem muss sich wohl der Verdacht regen, dass dem eigenen Leben etwas Wichtiges fehlt.
Doch niemand fühlt sich gern unvollständig. Neid ist kein schönes Gefühl und wird meist schnell umgewandelt: statt sich dieselbe Begeisterungsfähigkeit, zu wünschen werden Begeisterung, Wandelbarkeit und Vielseitigkeit an sich für suspekt erklärt. Die Lebendigkeit des Tausendsassas – denn genau darum handelt es sich – wird lächerlich gemacht, als dumm, ungeschickt, kindlich, verrückt oder naiv dargestellt.
Dies geht an jungen wie erwachsenen Tausendassas nicht ohne Spuren vorbei. Selbstzweifel, Schuldgefühle, Depressionen, das Gefühl ein Versager zu sein und tausenderlei Selbstvorwürfe sind die Folge. Diese Gefühle stehen bei vielen Hochbegabten in einem fortwährenden Widerstreit mit ihrer Begeisterungsfähigkeit. Die Lebendigkeit droht immer wieder im Keim erstickt, an der Wurzel betäubt zu werden.
Und die Schuldgefühle, selten bewusst bearbeitet, öfter ein ganzes Leben klaglos mitgeschleppt, führen dazu, dass hochbegabte Erwachsene nur sehr bescheiden und zurückhaltend auftreten. Dass sie für sich und ihre hochbegabten Kinder nur sehr bescheidene Forderungen stellen:
Ein zusätzliches Arbeitsblatt in Mathe oder nachmittags ein paar Experimente. Statt: Eine Schule, in der Kinder lebendig sein können, begeistert und an ihren 1000 selbstgewählten Projekten arbeiten können.
Eine ruhige Nische, in der ich vor mich hinarbeiten kann, ohne dass es jemanden stört. Statt: Eine Arbeitsumgebung, die mich inspiriert und in der meine Fähigkeiten gesehen und geschätzt werden.
Kurzum: es geht darum selbstbewusst aufzutreten, sich nicht länger zurückhalten zu lassen.
Dazu braucht es:
– Austausch mit anderen Hochbegabten und Hochkreativen
– Experimentierfelder, Räume in denen die Begeisterung und Lebendigkeit der Tausendsassas sich entfalten kann und erfahrbar wird, dass man mal so richtig loslegen und losträumen kann – ohne dass dadurch irgendwas “kaputtgeht”
– Öffentlichkeitsarbeit, die nicht taktiert und sich arrangiert, sondern lauthals und deutlich fordert.
Tausendsassas dieser Erde vereinigt euch und traut euch den Anderen mal so richtig auf den Nerv zu gehen!
Praktische Tips für Tausendsassas in Barbara Shers Scannerbuch:
http://begabung.blogspot.com/2009/07/sind-sie-auch-ein-scanner.html